Zivilisationsprozess basiert auf Fortschritt
Die produktivitätssteigernde Wirkung des technischen Fortschritts stellt den zentralen Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung seit Beginn der Industrialisierung um 1750 dar.
   

Über die Werkbank zur Tertiären Zivilisation [1]

Von Rüdiger Hohls

Große Teile Europas lagen als Folge des Zweiten Weltkriegs noch in Schutt und Asche, als der französische Soziologe und Ökonom Jean Fourastié 1949 die erste Ausgabe seines Buches mit dem optimistischen Titel „Le grand espoir du XXe siècle“ veröffentlichte. Fourastié begann seine Karriere allerdings nicht in der Wissenschaft, sondern im französischen Staatsdienst, zunächst im Finanzministerium, danach als Leiter des von Jean Monnet begründeten Generalkommissariats für die Modernisierungs- und Ausrüstungsplanung der französischen Wirtschaft. 1947 wurde er zudem Professor an der Sorbonne.[2] Während Fourastiés Buch in Frankreich schnell zu einem Standardwerk wurde, fand seine Theorie des strukturellen Wandels, die 1954 erstmals in Deutschland unter dem Titel „Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts“ erschien, zunächst kaum Beachtung.[3]

Der bis in die 1970er Jahre vorherrschende Konsens, die Gegenwartsgesellschaft als „Industriegesellschaft“ zu begreifen, korrespondierte nicht nur vordergründig mit den Alltagserfahrungen im prosperierenden Nachkriegseuropa, als ein großes Arbeitskräftepotential im Rekonstruktionsboom insbesondere durch das Baugewerbe und die Industrie absorbiert und die aufgestaute Nachfrage nach Konsumgütern durch die Industrie befriedigt wurde. Die Wohlstandseffekte überlagerten lange Zeit die abweichenden Entwicklungen in den Wirtschaftszweigen durch den sich beschleunigenden technischen Fortschritt, durch eine höhere Arbeitsproduktivität und einem sich ausdifferenzierenden Konsum infolge wachsender Preisunterschiede zwischen Verbrauchs- und langlebigen Investitionsgütern, Agrarprodukten und Dienstleistungen.[4] Als dann der industrielle Wachstumsmotor in den 1960er Jahren erste Fehlzündungen produzierte und bald darauf ins Stottern geriet, wuchs das Interesse an der theoretischen Konzeption und am Begriffssystem Fourastiés. In Fourastiés optimistischer Theorie des strukturellen Wandels führen die Produktivitätssteigerungen durch technischen Fortschritt nach einer „Übergangsperiode“ zu „einem zukünftigen und notwendigen neuen wirtschaftlichen Gleichgewicht“ [5] , die er Tertiäre Zivilisation nennt. Der Ansatz von Fourastié unterscheidet sich von Keynes pessimistischer Vision einer tendenziell wachsenden Unterbeschäftigung.

In der Folgezeit knüpften sich an Fourastiés Tertiärisierungsthese mehrere sozialgeschichtliche, wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Diskurse, die miteinander verwoben sind und hier nur jeweils grob skizziert werden können. Im Folgenden werde ich zunächst auf das Drei-Sektoren-Modell und dessen empirischen und sozialhistorischen Implikationen eingehen. Zweitens wird Fourastiés Erklärungsansatz für den Strukturwandel infolge permanenten technischen Fortschritts unter Rückgriff auf angebots- und nachfragetheoretische Argumentslinien erläutert. Drittens soll Fourastiés Tertiärisierungsthese mit der Rezeptionsgeschichte von Daniel Bells „postindustrieller Gesellschaft“ verknüpft werden, die den Ausgangspunkt für die aktuellen Debatten über die Informations- und Wissensgesellschaft bildet.[6] Die letztgenannten Gesellschaftsbe griffe werden in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Forschungsprogrammen, politischen Leitlinien, Presseberichten und Zeitungskolumnen gerne zur Kennzeichnung moderner Gegenwarts- oder vermeintlich zukünftiger Gesellschaften beschworen.[7]

Seit den Anfängen der modernen Nationalökonomie und dem Aufkommen der na tionalstaatlichen Volks-, Wirtschafts- und Sozialstatistik wird über die angemessene Einteilung der Volkswirtschaft in verschiedene Wirtschaftszweige oder Branchen bzw. Tätigkeitsfelder oder Berufsgruppen diskutiert. Die von Fourastié vorgenommene Einteilung der Wirtschaft in einen primären, sekundären und tertiären Sektor ist daher keineswegs neu gewesen, sondern lehnte sich an eine Ende der 1930er Jahre durch die
Ökonomen Allan G.B. Fisher und Colin G. Clark vorgenommene Segmentierung an.[8] Während Fisher die drei Sektoren als operationales Modell zur Untersuchung des Einflusses von Produktivitätsfaktoren ähnlich wie später Fourastié einsetzte, definierte Clark die Sektoren als formalstatistische Begriffe für deskriptiv-analytische Fragestellungen.[9] Danach unterscheiden sich die drei Sektoren folgendermaßen:

  • Der primäre Sektor umfasst die Betriebe und Beschäftigten der Urproduktion, also der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Tierhaltung, Fischerei und Jagd. Je nach Vorverständnis werden hierzu von einigen Forschern auch die Grundstoffindustrien und der Bergbau gezählt.
  • Zum sekundären oder industriellen Sektor zählen die Unternehmen und Beschäftigten der verarbeitenden Fabrikation in Industrie und Handwerk, Bergbau, Energiewirtschaft und das gesamte Waren produzierende Gewerbe.
  • Der tertiäre Sektor oder Dienstleistungssektor umfasst die Unternehmen und Mitarbeiter der privaten, öffentlichen und sozialen Dienstleistungen einschließlich Bildung, Erziehung und Wissenschaft sowie Handel, Transport, Banken, Versiche rungen und öffentliche Verwaltungen.

Die produktivitätssteigernde Wirkung des technischen Fortschritts stellte für Fourastié den zentralen Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung seit Beginn der Industrialisierung um 1750 dar. Deshalb steht in seiner Abgrenzung der drei Wirtschaftssektoren die Entwicklung der Arbeitsproduktivität im Zentrum. Die Zugehörigkeit von Wirtschaftszweigen zu den Sektoren wird von Fourastié als im Laufe der Zeit veränderlich angesehen, je nachdem wie sich die Produktivität in den Unternehmen oder Branchen entwickelt: [10]

  • Nach Fourastié umfasst der primäre Sektor vor allem Wirtschaftszweige, die lebensnotwenige Güter mit geringer Nachfrageelastizität (Lebensmittel) herstellen und die einem mittelmäßig starken technischen Fortschritt unterliegen. Der primäre Sektor prägt die primäre Zivilisationvor der industriellen Revolution, die Fourastié in den am weitesten entwickelten Ländern West- und Mitteleuropas um 1800 enden lässt.
  • Der sekundäre (industrielle) Sektor bündelt die gewerblichen Unternehmen, die nicht lebenswichtige Güter mit weniger starrer Nachfrage herstellen, und in denen der technische Fortschritt groß bis sehr groß ist. Der sekundäre Sektor unterliegt den stärksten Veränderungen in der so genannten Übergangsperiode, die Fourastié wiederum unterteilt in eine industriewirtschaftliche Startphase, in eine Expansionsphase oder Ausdehnungsperiode, in der die Zahl der Beschäftigten im industriellen Sektor ihren Höhepunkt erreicht bei gleichzeitiger drastischer Zunahme der Arbeitsproduktivität, und in eine Abschlussperiode oder Deindustrialisierungsphase infolge industrieller Rationalisierungseffekte, in der es zu einer Umschichtung zugunsten tertiärer Berufe und Tätigkeitsfelder kommt.
  • Der tertiäre oder Dienstleistungssektor schließt alle Wirtschaftszweige bzw. Unternehmen ein, die Dienste und Produkte mit hoher Nachfrageelastizität bereitstellen und die einem nur geringem oder gar keinem technischen Fortschritt unterliegen. Die tertiäre Zivilisation zeichnet sich nach Fourastié durch ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht aus, da die vom technischen Fortschritt ausgehenden Umwälzungen, die immer mit Unbeständigkeit, Krisen, Unsicherheit und Unruhe einhergehen, nur noch eine kleine Zahl von Beschäftigten betreffen.[11]

Fourastié wurde mit seinem Modell zum Hauptvertreter der Drei-Sektoren-Hypothese, indem er die langfristige Entwicklung sich modernisierender Volkswirtschaften als einen kontinuierlichen Prozess beschrieb, in dem eine Produktions- und Beschäftigungsverschiebung vom primären über den sekundären zum tertiären Sektor erfolgte. Die im Anschluss an den Essay abgebildeten Schaubilder zeigen das Modell des strukturellen Wandels. In den angelsächsischen Ländern firmierte die Drei-Sektoren-Hypothese als Fisher-Clark-Modell, im kontinaleuropäischen Kontext wurde der Ansatz breit als Fourastiés Tertiärisierungsthese rezipiert.

Hartmut Kaelble wies dann in seinem 1989 veröffentlichten Aufsatz „Was Prometheus most unbound in Europe?“ nach, dass dieses Modell primär für die frühindustrialisierten europäischen Länder zutrifft und somit einen spezifisch europäischen, arbeitsintensiven Weg des langfristigen Strukturwandels charakterisiert.[12] Länder wie Japan, die Vereinigten Staaten, Australien oder Kanada und selbst viele europäische Länder haben demnach keine industrielle Übergangsperiode erlebt, sondern sich direkt aus
agrarisch geprägten Volkswirtschaften in moderne Dienstleistungsgesellschaften gewandelt. Nur in einigen „europäischen Gesellschaften lief die Geschichte der Beschäftigung streng nach unseren Lehrbüchern ab und enthielt nach der Periode der Agrargesellschaft eine wirkliche Periode der Industriegesellschaft, in der die Industrie tatsächlich der größte Beschäftigungssektor war.“[13] Das Modell hält also einer historisch empirischen Überprüfung nur eingeschränkt stand, weil es eher für die historischen Sonderfälle der frühen Industriegesellschaften (Großbritannien, Deutschland, Belgien, Schweiz) sowie für Österreich, Schweden und Italien zutrifft. Als entwicklungspolitische Leitlinie (nachholende Industrialisierung) für Schwellenländer oder Gesellschaften der ‚Dritten Welt’ führt diese Theorie sogar in eine Sackgasse.

Zwar illustriert Fourastié seine zeitdiagnostische Untersuchung mit zahlreichen historischen Belegen und Statistiken zu vielen Ländern und Regionen seit Beginn der industriellen Revolution, dennoch geht es ihm nicht um eine originär historische Untersuchung des Wandels.[14] Seine Epochenmarken für die einzelnen Phasen verschwimmen, ja sind teilweise widersprüchlich. Fourastiés Interesse gilt mehr der Zukunft als der Vergangenheit, sein Ziel ist der Nachweis der Planbarkeit oder zumindest Voraussehbarkeit zukünftiger Entwicklungen.[15] In gewisser Weise ist er damit ein Vorläufer der Futurologen der 1960er und 1970er Jahre.

Die referierten Ergebnisse widerlegen das starre Sektoren-Modell von Fisher und Clark, deren deskriptive Begrifflichkeit Fourastié zwar übernommen hat, wobei er jedoch immer von einer dynamischen Abgrenzung der Sektoren ausging.[16] Als Kriterien für die Abgrenzung dienen Fourastié zum einen die Intensität des technischen Fortschritts, gemessen an der Produktivität, andererseits das Verbrauchskriterium, gemessen an der Nachfrageelastizität. Sein Erklärungsansatz für den Strukturwandel strahlt wohl auch deshalb weiter, weil er sich argumentativ sowohl aus dem „Baukasten“ der Angebotstheoretiker als auch der Nachfragetheoretiker bedient und damit nicht so leicht zwischen die Mühlsteine der sich dichotom abgrenzenden wirtschaftswissenschaftlichen Schulen geriet.

Ausgangspunkt für den nachfrageorientierten Ansatz ist die als „Engelsches Gesetz“ [17] bekannte Hypothese, dass bei steigendem Einkommen die Nachfrage nach Nahrungsmitteln und lebensnotwendigen Gütern unterproportional, die Nachfrage nach nicht lebensnotwendigen Gütern hingegen überproportional wächst. Dieser Sachverhalt wird auch als sektoral unterschiedliche Einkommenselastizität bezeichnet. Im primären Sektor werden üblicherweise lebensnotwendige Güter hergestellt, im industriellen Sektor werden nicht lebensnotwendige und zudem variabel nachgefragte Güter produziert, die tertiäre Produktion ist auf höherwertige Güter und Dienstleistungen ausgerichtet. Bei steigenden Realeinkommen aufgrund von Produktivitätsfortschritten und Beschäftigungsausweitungen in der Industrie wächst das relative Gewicht der Nachfrage nach Dienstleistungen. Letztlich nehmen dann auch Produktion und Beschäftigung im tertiären Sektor zu. Es handelt sich also um ein nachfrageinduziertes Wachstum des Dienstleistungsbereiches, dessen Dienstleistungsproduktion zur Befriedigung der expandierenden Nachfrage nur arbeitsintensiv erfolgen kann. Denn, im Gegensatz zur industriellen Produktion, besitzt sie laut Fourastié ein nur geringes Potential zur Steigerung ihrer Arbeitsproduktivität.

Dieser von Allan Fisher übernommene Erklärungsansatz strukturellen Wandels basiert also auf der volkswirtschaftlichen Einkommensstruktur und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Gesamtnachfrage nach verschiedenen Gütern. Ein stetes Anwachsen der durchschnittlichen Realeinkommen voraussetzend, gründet sich der Trend zur Dienstleistungswirtschaft dabei auf den unterschiedlichen Nachfrageelastizitäten der Güter. Dieses Kriterium bietet zusammen mit dem Engelschen Gesetz einen Erklärungsansatz für die Veränderungen innerhalb der Produktionsstruktur: Die Produktion passt sich also der Nachfrage an.

Fourastiés angebots- und nachfragetheoretische Begründungsansätze

Nachfrageorientierter Ansatz

 

Angebotsorientierter Ansatz

 

Sektoral unterschiedliche Einkommens- und Nachfrageelastizitäten

 

Sektoral unterschiedliche Effekte des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts

 

Steigendes Pro-Kopf-Einkommen in Bereichen hoher Arbeitsproduktivität

 

Hohe Produktivitätsfortschritte setzen Arbeitskräfte zunächst im Agrarsektor, später in der Industrie frei

 

Steigende Nachfrage nach hochwertigen Gütern des sekundären und tertiären Sektors

 

Tertiärer Sektor bleibt arbeitsintensiv, weil dort Potential für Produktivitätsfortschritte gering

 

Verschiebungen in der Produktionsstruktur

 

Verschiebungen in der Erwerbsstruktur

Tertiarisierung der Volkswirtschaft

 

Den Ausgangspunkt für Fourastiés angebotsorientierten Ansatz stellt die Entwicklung der Arbeitsproduktivität durch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt dar. Dieser macht sich überwiegend in Form von Prozessinnovationen oder von Produktinnovationen bemerkbar, was die Produktivität einer Volkswirtschaft erhöht ‑ allerdings aber nicht für alle Bereiche der Produktion in gleichem Maße. „Die grundlegende Wirkung des technischen Fortschritts auf die Produktion besteht also in einer Erhöhung der Gesamtproduktion und einer gleichzeitigen Änderung der Produktionsstruktur.“ [18] Durch den technischen Fortschritt und die erhöhte Arbeitsproduktivität sinkt die Nachfrage nach Arbeitskräften in der Landwirtschaft und zunehmend im industriellen Sektor. Die daraus resultierende „technologische Arbeitslosigkeit“ wird durch den „wirtschaftlichen Mechanismus“ der „Werteverschiebung vom primären zum tertiären Sektor“ beseitigt, indem die arbeitsintensiven Unternehmen des Dienstleistungsbereichs die vom primären oder sekundären Sektor freigesetzten Arbeitskräfte aufnehmen. [19] Allerdings erweist sich Fourastiés optimistisches Bild von der Zukunft dann als falsch, wenn im Gegensatz zu seiner Annahme auch im Dienstleistungssektor massive Rationalisierungen möglich werden, so dass es auch dort schließlich zu einer Sättigung kommt. Diese Entwicklung ließ sich in den zurückliegenden Jahren durch die Umstellung auf digitale Ablaufprozesse und Einführung elektronischer Kommunikation beobachten. Zudem impliziert dieser Ansatz den Nationalstaat als Aktionsraum und berücksichtigt die sich mit der Globalisierung vertiefende internationale Arbeitsteilung allenfalls am Rande. Inzwischen sind auch viele personal- und kostenintensive Dienstleistungen in Länder Osteuropas oder Südostasiens verlagert worden, wo die Arbeitskosten niedriger sind. Die Globalisierungseffekte zeigen dem Nationalstaat zunehmend die Grenzen seiner Steuerungsmöglichkeiten auf.

Im Jahr 1973 veröffentlichte der amerikanische Soziologe Daniel Bell sein berühmt gewordenes Werk „The coming of post-industrial society“, in dem er die (amerikanische) Industriegesellschaft untersucht, um deren weitere Entwicklung zu prognostizieren: „Das vorliegende Buch ist ein Versuch auf dem Gebiet der Prognose gesellschaftlicher Entwicklungen. […] Uns geht es um die Zukunft der entwickelten Industriegesellschaften.“[20] Bells Modell einer nachindustriellen Gesellschaft ergänzt die mehr wirtschaftstheoretisch angelegten Sektortheorien um eine gesellschaftspolitische Dimension. „Wenn hier von postindustrieller Gesellschaft die Rede ist, sind in erster Linie die Änderungen in dersozialen Struktur gemeint, also der wirtschaftliche Wandel, die Verschiebungen innerhalb der Berufsgliederung, das neue Verhältnis zwischen Theorie und Empirie, vor allem zwischen Wissenschaft und Technologie“.[21] Danach ist die Dienstleistungsgesellschaft Fourastiés für Bell eine Vorstufe seiner postindustriellen Gesellschaft, wobei er analytisch nach Auswirkungen auf die Sozialstruktur, die politische Ordnung und auf den kulturellen Bereich unterscheidet. Wirtschaft, Technologie und Berufsgliederung sind für Bell lediglich Teilbereiche der sozialen Struktur. Im Einklang mit Fourastié geht auch Bell davon aus, dass die Bedeutung der materiellen Produktion abnimmt und die Menschen zunehmend zunächst der persönlichen und später der öffentlichen und sozialen Dienstleistungen bedürfen.

Allerdings erweitert Bell das bekannte Drei-Sektoren-Modell um einen quartären und quintären Sektor. Analog zu Fourastié, der die Volkswirtschaft in drei epochal charakteristische Sektoren unterteilte, differenziert Bell nunmehr die Dienstleistungen in drei Gruppen, die jeweils mit einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation verbunden sind. Bei den „persönlichen“ Dienstleistungen (tertiärer Sektor – unter anderem Einzelhandelsgeschäfte, Wäschereien, Frisöre) handelt es sich um manuelle persönliche oder gegenstandsbezogene Dienstleistungen, die charakteristisch sind für vorindustrielle Gesellschaften. Die „geschäftlichen oder produzentennahen“ Dienstleistungen des quartären Sektors (unter anderem Banken und Finanzen, Immobilien, Versicherungen, Transportwesen) erbringen Angebote, die direkt mit der industriellen Produktion in Verbindung und deshalb stellvertretend für Industriegesellschaften stehen. Die „intelligenten“ Dienstleistungen des quintären Sektors (unter anderem Gesundheit, Erziehung, Bildung, Forschung, Verwaltung) sind dagegen charakteristisch für postindustrielle Gesellschaften, [22] wobei laut Bell das „spezifische Anwachsen der letztgenannten Kategorie gleichzusetzen ist mit der Ausbreitung einer neuen ‚Intelligentsia’“, die vor allem an Universitäten, in Forschungsinstituten, in akademischen Berufen und in der Verwaltung zu finden ist.[23] So entwickelt sich in der postindustriellen Gesellschaft eine spezifische Form der Dienstleistungswirtschaft, die auch als Wissensgesellschaft bezeichnet werden kann, da es sich überwiegend um „intelligente Dienste“ handelt, die eine große Zahl professioneller, akademisch qualifizierter Wissensarbeiter voraussetzen.[24] Bell spricht daher auch vom „Primat des theoretischen Wissens“, bei dem die Naturwissenschaften eine zentrale Rolle spielen.[25] Konsequenterweise erwartet Bell, dass die Informations- und Kommunikationstechnik zur Basis neuer wissensbasierter Verfahren wird. Diese Entwicklung bezeichnet er als „dritte technologische Revolution“, von der er erwartet, dass sie in hohem Maße auch die gesellschaftliche Ordnung verändern wird. Die Struktur und Organisation der nachindustriellen Gesellschaft werde daher von den Betreibern der neuen Technologien entworfen werden.[26] Noch anknüpfend an das Modell Fourastiés konzipierte Bell seine Vision von der Wissensgesellschaft als eine verwissenschaftlichte, dienstleistungszentrierte und akademisierte Gesellschaft. Im Unterschied zur Industriegesellschaft sei sie nicht mehr durch das Primat des Erfahrungswissens, durch die industrielle Produktion und manuelle Tätigkeiten sowie von den Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit bestimmt.[27]

Abschließen möchte ich den Beitrag mit einer Anleihe bei Burkhart Lutz, dem vermutlich ersten deutschen Fourastié-Experten hierzulande – und Übersetzer des Buches „Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts“. In einem Vortrag zum Rahmenthema „Geschichte der industriellen Arbeitsgesellschaft“ referierte Lutz 1997 über Ursachen, Verlauf und Voraussetzungen des westeuropäischen Nachkriegsbooms sowie über die Strukturkrise und ausbleibende Prosperitätskonstellation in den späten 1990er Jahren.[28] Das besondere an der Entwicklung der europäischen Nachkriegsgesellschaften sei es gewesen, dass nach dem 2. Weltkrieg vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion ein neues gesellschaftliches Regulationssystem für das Arbeiten und Produzieren etabliert wurde, das man in Deutschland mit dem Schlagwort „soziale Marktwirtschaft“, andernorts als „Wohlfahrtskapitalismus“ bezeichnet hat. Dieses Regulationssystem bedeutete einen tief greifenden Bruch, ja nahezu eine Revolution gegenüber früheren Verhältnissen. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Regulationssystems und damit erfolgreiche Komponente der Prosperitätskonstellation der Nachkriegsjahre sei es gewesen, in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik eine Strategiekompetenz mit hoher Effizienz zu organisieren. Den modernen Industriegesellschaften sei es in der Nachkriegszeit gelungen, mehr intelligente strategische Ressourcen zu organisieren. Sie übertrafen diesbezüglich nicht nur alle früheren Gesellschaften, sondern auch die nachfolgenden. Die Politik hatte die Strategieressourcen – in der Verwaltung wie in der politikberatenden Wissenschaft – auf die anstehenden Verteilungs- und Gestaltungsfragen zugeschnitten. Jean Fourastié stehe beispielhaft für dieses Modell einer die Politik beratenden Wissenschaft oder wissenschaftlich fundierten Politik in Frankreich und des von französischen Wissenschaftlern inspirierten Umfeldes von Jean Monnet, dem Initiator und später ersten Präsidenten der EGKS (Montanunion) – also der Vorläuferinstitution der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.



[1] Essay zur Quelle Nr. 1.12: Jean Fourastié: Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts (1949).

[2] Jean Fourastié (1907 – 1990), schloss 1930 ein erstes Studium mit dem Grad eines Diplomingenieurs (Arts et Manufactures) ab und erwarb 1936 den Doktor rer. pol. als Abschluss seines Studiums der Politik- und Sozialwissenschaften. Gleich nach Kriegsende veröffentlichte Fourastié erste volkswirtschaftliche und soziologische Werke, die zunächst vor allem in Frankreich Beachtung finden. Sein 1949 veröffentlichtes Buch „Le grand espoir du XXe siècle“ wurde in Frankreich schnell ein Klassiker, weil Fourastié darin erstmals den Versuch unternahm, langfristige Veränderungen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen theoretisch fassbar zu machen. Vgl. Rosenfeld, Félix, Jean Fourastié 1907-1990, in: Journal de la Société de Statistique de Paris, Bd. 131.3 (1990), S. 129-134.

[3] Von dem Buch existieren vier unterschiedliche französische Ausgaben, da Fourastié die Ergebnisse zahlreicher Begleitstudien in die überarbeiteten Fassungen einfließen ließ. Die letzte Ausgabe erschien kurz vor seinem Tod. Vgl. Fourastié, Jean, Le grand espoir du XXe siècle. Progrès technique, progrès économique, progrès social, Paris 1949 (2. revidierte Aufl. 1950; 3. revidierte und erweiterte Aufl. 1952); Le grand espoir du XXe siècle, definitive Fassung, Paris1963 (revidierte und aktualisierte Aufl. 1989). Die erste deutsche Ausgabe hat die französische Fassung von 1952 zur Grundlage: Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, Köln 1954. Die zweite deutsche Auflage erschien 1969 unter dem gleichen Titel und berücksichtigt laut Vorwort der Übersetzer die Änderungen der „Édition definitive“ von 1963 und dient diesem Essay als Grundlage. Zudem wurde das Buch auch in andere Sprachen übersetzt, erschien jedoch nie in einer englischsprachigen Ausgabe.

[4] Mit Blick auf Fourastié sind hier die beiden nachfolgenden Veröffentlichungen von Burkart Lutz von besonderem Interesse. Lutz fertigte als junger Wissenschaftsjournalist 1954 die erste Übersetzung von Fourastiés Le grand espoir du XXe siècle und zählt seit den 1960er Jahren zu den bekannten deutschen Sozialwissenschaftlern: Lutz, Burkart, Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt am Main 1984; Ders., Die Singularität der europäischen Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Kaelble, Hartmut (Hg.), Der Boom 1948 ‑ 1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992, S. 35-59. Zu Geschichte des Konsums vgl. Siegrist, Hannes; Kaelble, Hartmut; Kocka, Jürgen (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1997.

[5] Fourastié, Die große Hoffnung (wie Anm. 3), S. 113.

[6] Bell, Daniel, Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt am Main 1975 (amerikanische Originalausgabe: The coming of post-industrial society. A venture in social forecasting, New York 1973).

[7] Zwei Veröffentlichungen seien exemplarisch genannt: Castells, Manuel, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Das Informationszeitalter I, Opladen 2001; Stehr, Nico, Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie, Frankfurt am Main 2001.

[8] Fisher, Allan George Barnard, Production, Primary, Secondary and Tertiary, in: The Economic Record, 15.6 (1939), S. 24-38; Clark, Colin Grant, The conditions of economic progress, London 1940.

[9] Obwohl sich Fourastié der Terminologie Clarks bedient, wendet er sich doch gegen sein starres Konzept. Dennoch kommt er in der Praxis mit seinen Vorstellungen zu einer Segmentierung, die der Clarks entspricht. Vgl. Fourastié, Die große Hoffnung (wie Anm. 3), S. 75.

[10] Fourastié, Jean, Die Produktivität, in: Ders., Gesetze der Wirtschaft von Morgen. Drei grundlegende Essays, Düsseldorf 1967 (franz. Original urspr. 1952), S. 212ff.; Fourastié, Die große Hoffnung (wie Anm. 3), S. 74ff.

[11] Fourastié, Die große Hoffnung (wie Anm. 3), S. 113-122.

[12] Kaelble, Hartmut, Was Prometheus most unbound in Europe? The labour force in Europe during the late XIXth and XXth centuries, in: The journal of European economic history, 18.1 (1989), S. 65-104.

[13] Kaelble, Hartmut, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880 ‑ 1980, München 1987, S. 25-26.

[14] Dennoch dient ihm die Geschichte immer als Quelle und Beleg, vgl. etwa seine letzte auf Deutsch erschienene Veröffentlichung: Fourastié, Jean, Warum die Preise sinken. Produktivität und Kaufkraft seit dem Mittelalter, Frankfurt am Main 1989.

[15] Auch viele andere Werktitel Fourastiés belegen dies: Die große Metamorphose des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1964; Die 40.000 Stunden. Aufgaben und Chancen der sozialen Evolution, Düsseldorf 1966; La civilisation de 1975, Paris 1953 (diverse Folgeauflagen).

[16] Die Kritik an Fourastiés Sektorentheorie ist vielfältig. Sie setzt sowohl an der Methode, am verwendeten statistischen Material, als auch am Ergebnis an. Als wesentliche Probleme werden genannt: das Abgrenzungs- und das Aggregationsproblem, das Problem der institutionellen Gliederung und der multidimensionale Dienstleistungsbegriff sowie das Problem der unzureichenden Statistik.

[17] Benannt nach dem bekannten sächsischen, später preußischen Statistiker Ernst Engel, der im Jahr 1857 eine Untersuchung über den Nahrungsmittelkonsum der Bevölkerung Sachsens in Abhängigkeit vom Einkommen veröffentlichte.

[18] Fourastié, Die große Hoffnung (wie Anm. 3), S. 74.

[19] Fourastié, Die große Hoffnung (wie Anm. 3), S. 71.

[20] Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 20. Anders als Fourastiés Studie zwei Jahrzehnte zuvor fand Bells Buch schnell große Beachtung und ist bis heute im Buchhandel erhältlich.

[21] Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 30.

[22] Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 33, 112-120.

[23] Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 33.

[24] Kritische Einwände zu Bells nachindustrieller Gesellschaft wurden frühzeitig und zahlreich vorgebracht; exemplarisch sei hier auf die ökonomische Absage an die Zwangsläufigkeit der Entwicklung zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft durch Gershuny, Jonathan, Die Ökonomie der nachindustriellen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1981, verwiesen und auf den britischen Kulturhistoriker Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001. Für Burke beginnt die Wissensgesellschaft bereits im Jahre 1455 mit Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks als einem Verbreitungsmedium, wodurch die Kommunikation stärker noch als nach der Erfindung der Schrift nicht mehr auf Anwesenheit, also auf Interaktion angewiesen ist.

[25] Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 36.

[26] Bell, Daniel, Die dritte technologische Revolution und ihre möglichen sozialökonomischen Konsequenzen, in: Merkur, 44 (1990), S. 28-47.

[27] Einen gelungenen Überblick über den Definitionen und die Diskussionen um die Wissensgesellschaft liefert: Heidenreich, Martin, Die Merkmale der Wissensgesellschaft (2002), in:    
<http://www.uni-bamberg.de/sowi/europastudien/dokumente/blk.pdf> (28.01.2005).

[28] Lutz, Burckart, Gesellschaftliche Organisation wirtschaftlicher Leistung. Von der Vernutzung vorindustrieller Sozialressourcen zur bewusst gestalteten Gesellschaft? (1997), in:      
<http://www.gcn.de/Kempfenhausen/Zyklus2/downloads/b_lutz.pdf> (28.01.2005).

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